Obwohl Schildkröten mit über 350 Arten zur größten Tiergruppe im Tierreich gehören, wurde erst in den letzten Jahrzehnten mehr wissenschaftliche Forschung an ihnen betrieben, und noch längst sind nicht alle Geheimnisse dieser urzeitlichen Tiere offengelegt.
Hier soll mit einigen veralteten Praktiken aufgeräumt werden.
Kalthaltung
Viele Praktiken in der Haltung sind längst überholt. Dennoch ist der Wissensstand inzwischen deutlich erhöht und macht den Weg frei für eine moderne Warmhaltung. Dazu würde ich empfehlen, im Taschendinos Handbuch Technik nachzulesen, wie genau das Klima im Habitat aussieht, und wie wir es im Frühbeet simulieren können. Kalthaltung ohne Wärmequellen ist sehr schädlich für Europäische Landschildkröten aus dem Mittelmeerraum, die in der Aktivitätsphase immer einen Bereich benötigen, in dem sie sich auf ihre Vorzugstemperatur von 38 Grad bringen können. Haben sie diese Möglichkeit nicht, leiden ihre Organe darunter, da der Stoffwechsel nur auf Sparflamme laufen kann. Organschäden und schwere Krankheiten wie Gicht, Leber- und Nierenversagen führen zu einem langsamen, schmerzhaften Tod. Man braucht sich nur Klimadaten der Ursprungshabitate anzusehen, um zu verstehen, dass die Tiere ohne Frühbeet mit Heizung in unseren Breiten nicht existieren können. Unser Klima ist im Vergleich zu kalt und nass, die Sonnenscheindauer zu kurz und die Strahlungsintensität zu schwach. Diesen Umstand kompensieren wir in der modernen artgerechten Haltung durch Warmhaltung in hochwertigen Frühbeeten, die mit Technik, also Heizung und Sonnenplatz, ausgestattet sind.

Futterentzug und Leerbaden vor der Starre
Weitere Punkte, die nicht mit moderner artgerechter Haltung vereinbar sind, sind Futterentzug und Leerbaden in Vorbereitung der Kältestarre. Wir senken in der artgerechten Haltung allmählich ab Ende Oktober über vier bis sechs Wochen die Grundtemperatur im Frühbeet ab und verkürzen die Sonnenstunden. Sobald es weniger als 150 Sonnenstunden im Monat gibt, wird den Schildkröten wie im Habitat signalisiert, dass die Saison zu Ende geht. Sie suchen dann vermehrt ihre Badeschalen auf, setzen große Mengen an Urat und Kot ab, und stellen das Fressen selbständig ein. Ein Futterentzug und Zwangsbaden, wie man es früher praktiziert hat, ist somit unnötig. Wichtig ist, bis zuletzt eine warme helle UV-Sonnenlampe mit 35 Grad auf Panzerhöhe anzubieten, bis auch das letzte Tier sich mehrere Tage nicht mehr gesonnt hat.
Die Vorstellung, dass die Schildkröten ihren Darm komplett entleeren müssen, ist ebenfalls überholt. Heute wird sogar davon ausgegangen, dass einem komplett entleerten Darm im Frühjahr nach der Auswinterung die wichtige Darmflora fehlt, was zu Problemen wie einer Posthibernalen Anorexie führen könnte.
Panzerpflege
Früher war man der Auffassung, dass man den Panzer der Schildkröte mit Ölen pflegen müsse, zweifelhafte „Panzerpflege“-Produkte sind sogar heutzutage noch erhältlich. Von dieser Praxis ist nur abzuraten. Schildkröten werden auch in der Natur von niemandem eingeölt, höchstens liegen sie einmal unter mediterranen Duftkräutern versteckt, aber dies ist wohl nicht mit einem „Einölen“ gleichzusetzen. Der Schildkrötenpanzer ist wichtig für die gleichmäßige Erwärmung der Schildkröte. Ein Einölen kann diesen wichtigen Vorgang erschweren, ebenso wie eine Bemalung oder Ähnliches. Letztere stehen im Verdacht, Nekrosen des Panzers zu verursachen. Schildkröten-Auffangstationen erleben oft, dass Schildkröten abgegeben werden, die jahrzehntelang eingeölt wurden, und dass es sehr schwierig und arbeitsam ist, die alten, dicken Ölschichten auf tierfreundliche Art und Weise zu entfernen.

Dampfaufzucht im Terrarium
Früher wurden viele Tiere in Kalthaltung gehalten, und Schlüpflinge wurden die ersten Jahre meist im Terrarium aufgezogen. Oft mussten diese Tiere auch auf die Starre verzichten oder durften -profitmaximierend für Züchter- nur in eine verkürzte Starre. Da die Winterstarre immer auch eine Zeit der natürlichen Selektion ist, überlebten so auch Schildkröten, die ansonsten eine normale Winterstarre nicht überlebt hätten. Das gesundheitliche Problem und frühe Ableben dieser „Dampfaufzuchten“ genannten jungen Schildkröten wurde dann bequemerweise an die Neuhalter weitergereicht, wo diese Tiere oft nur kurz überlebten.
Warum nennt man im Terrarium gehaltene Jungtiere eigentlich Dampfaufzuchten?
Weil sie dort durch die große Wärme ohne Starre wesentlich schneller wachsen als physiologisch vorgesehen, diese Tiere sind meist zu schwer für ihre Beine und ihr gesamtes Skelett, wodurch ihre Knochen und ihr Panzer ineinandersacken (Rachitis). Ihre zu schnell gewachsenen, großen Organe werden im Panzer eingequetscht und sie neigen von klein auf zu Höckerbildung und Organschäden.
Schmerzunempfindlichkeit
Eine andere widerlegte Theorie ist, dass Schildkröten schmerzunempfindlich seien. Viele Halter suchten selbst bei schweren Verletzungen ihrer Tiere keinen Tierarzt auf, weil die Tiere ja angeblich kein Schmerzempfinden hätten. Diese komplette Fehleinschätzung beruht teilweise auf Ignoranz und auch auf der sprichwörtlichen Duldungsfähigkeit und Resilienz dieser Urzeittiere, die vieles stumm ertragen müssen, bevor sie letztendlich verenden. Reptilientierärzte wissen alles darüber und weisen immer wieder darauf hin, dass Schildkröten schmerzempfindlich sind, auch wenn sie keine für den Menschen hörbaren Schmerzlaute äußern können. Wahrscheinlich würden wesentlich mehr Schildkröten korrekt gehalten, wenn sie es könnten.
Inzwischen weiß man, dass Schildkröten sehr wohl mittels Lautäußerungen kommunizieren, jedoch in einem für uns Menschen nicht wahrnehmbaren, tieffrequenten Bereich.
Schildkröten benötigen genauso wie andere Reptilien bei Unfällen, Operationen und schmerzhaften Erkrankungen Schmerztherapie.
Loch im Panzer
Der Panzer einer Schildkröte ist zum Beispiel so empfindlich wie unser Schienbein. Die Praxis, in die Marginal-Schilde Löcher zu bohren, wie es früher Usus war, um die Tiere zum Schutz vor Entlaufen „anzuleinen“, erscheint daraufhin in geradezu barbarischem neuen Licht.

Einfrieren
Damit kommen wir zum Punkt Euthanasie. Früher war man der Auffassung, dass man Schildkröten euthanasieren könne durch Einfrieren in der Tiefkühltruhe. Diese leider noch gelegentlich anzutreffende Praxis wird heute als Verstoß gegen das Tierschutzgesetz angesehen, da die Tiere dabei durch platzende Nervenzellen nicht hinnehmbare, unerträgliche Schmerzen erleiden. Schildkröten müssen als fühlende Lebewesen auf humane, schmerzfreie Art und Weise vom Reptilientierarzt durch Euthanasie erlöst werden. Die Euthanasie von wechselwarmen Tieren erfordert Expertise und sollte daher möglichst nur vom Facharzt für Reptilien durchgeführt werden.
Haltung als „Haustier“
Es mag einem als verantwortungsvoller Halter befremdlich erscheinen, doch trifft man noch immer auf Halter, die ihre Schildkröte frei in der Wohnung herumlaufen lassen, wie einen Hund oder eine Katze. Zu allem Überfluss werden solche Tiere gelegentlich auch noch mit Essensresten ernährt. Eine Starre und UV-Licht kennen solche Tiere in der Regel nicht. Solche Tiere auf eine tiergerechte Haltung umzustellen, ist eine echte Herausforderung. Gesundheitlich sind diese Tiere meist sehr angeschlagen. Wichtige Parameter der artgerechten Haltung sind ihnen teilweise jahrzehntelang entgangen. Ihr Panzer ist durch UV- und Kalziummangel meist weich wie ein Brötchen. Knochen sind häufig hauchdünn, und können das Gewicht der Tiere nicht tragen, wodurch die Tiere sich vorwärts „schieben“. In vielen Fällen sind die Gelenke stark geschädigt, durch das ständige Laufen auf ungeeigneten, rutschigen Böden. Krallen und Schnabel werden nicht abgenutzt. Die Leber- und Nierenwerte sind zudem oft katastrophal, weil weder die nötige Vorzugstemperatur gegeben war, noch Wildkräuterernährung. Hinzu kommt verschlimmernd meist noch ein fehlender Zugang zu Wasser.
